Start Neuigkeiten Tod des Bruders

Tod des Bruders

Ich habe einen Artikel in der Thüringer Allgemeine vom 24.12.2013 gefunden. Dieser Artikel passt sehr gut zu uns. Ich bin Frau Marga Neumann sehr dankbar, dass sie uns ihre Gefühle so offenbart.

Leserbrief: Ein Familienfoto aus glücklichen Tagen

24.12.2013 - 16:19 Uhr

Unsere Leserin Marga Neumann aus Büchel hat den Verlust ihres kleinen Bruders nie verwinden können
Das Foto der Familie Hampe erinnert an ein wunderbares Weihnachtsfest. Die Aufnahme ist eine Erinnerung von unserer Leserin Marga Neumann aus Büchel. Foto: privat
Dieser 24. Dezember, jener Heiligabend, von dem ich schreibe, war vor 66 Jahren. In meinen Erinnerungen ist es aber, als sei er gestern erst gewesen. Ein heftiges Ziehen an meinen Zöpfen und die Worte: "Wenn du nicht aufstehst, verschläfst du den Weihnachtsmann!", ließen mich schleunigst aus dem Bett hüpfen. Mein kleiner Bruder stand schon angezogen und strahlend vor mir. Von unten drang weihnachtliche Musik herauf. Flink und wendig sprangen wir die Treppe hinunter. Vater hatte im Flur das Grammophon aufgestellt. Voller Aufregungen und Erwartungen begann dieser Tag für uns beide. Weil draußen windiges Wetter war, durften wir im Flur mit dem Ball spielen. Ausgelassen und übermütig flog das runde Leder hin und her, hoch und runter, bis er die Lampe streifte. Dann trat Stille ein. Meinen Aufschrei hatte Mutter wohl gehört, denn sie kam und sprach ruhig aber mit strengem Blick: "Soll es heute noch Tränen geben? Herein mit euch!". Wir gehorchten. Nahmen die Spiele aus dem Schrank und beschäftigten uns. In der Küche roch es nach Braten.

Engelshaar am Baum

Vater trat lächelnd ein, streichelte unsere Wangen und lobte uns: "Was haben wir doch für brave Kinder!". Er hatte also von dem Vorfall nichts bemerkt. Er ging zu Mutter und flüsterte ihr was ins Ohr. Ich schnappte das Wort "Engelshaar" auf. Aha, Vater war am Christbaumschmücken. Wir schlichen beide zur Stubentür, doch leider war sie verschlossen. Mein Brüderchen weinte. Mutter kam, nahm ihren kleinen Liebling in die Arme und sang: "Nun ist der Weihnachtsmann gar nicht mehr weit!". So glücklich hatte ich Mutter lange nicht gesehen. Es war das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg, was wir wieder gemeinsam feiern durften. Viel hatte Vater durchstehen müssen, besonders die schwere Verwundung. Das Wetter hatte sich gebessert, und wir gingen nach draußen. Großvater war im Hof und zeigte nach dem Schwarm Vögel in der Luft. "Seht ihr die Schneegänse, es wird heute noch Schnee geben!" Mein Bruder umarmte Großvater und wollte gleich den Schlitten holen. Sie waren ein Herz und eine Seele, beide unzertrennlich. Alle Leute mochten den Kleinen, weil er ein pfiffiges Kerlchen war. Er konnte zum Beispiel schon alle Tänze: Walzer, Tango, Swing. Auch in der Landwirtschaft kannte er sich aus. Und das mit fünf Jahren. Großvater hatte richtig prophezeit, denn als wir zur Christmette gingen, fing es ganz sacht an zu schneien. Noch nie hatte ich das Glockenläuten, die Predigt und Gesang so schön empfunden wie an diesem Abend. Großmutter empfing uns vor der Tür mit den Worten: "Der Weihnachtsmann war schon da!" Ich bewunderte den Tannenbaum. Meine Puppe Ingrid hatte ein neues Kleid und die Puppenstube neue Gardinen. Der Wunsch meines Bruders war auch in Erfüllung gegangen: Ein Schimmel und Leiterwagen. Vater holte die Ziehharmonika. Wir sangen, spielten und lachten. Die Blicke unseres Vaters schweiften in die Ferne, als er das Lied spielte und sang: "Heimat deine Sterne!". Großmutter brachte den Fotoapparat, den sie gut versteckt hatte vor Plünderungen der Besatzungsmächte. Es wurde gleich ein Bild gemacht von der glücklich vereinten Familie zur Erinnerung. Wir naschten Fondantringe und Haferflockenplätzchen. Wir wünschten uns: Möge dieser Heiligabend nie zu Ende gehen. Als mein kleiner Bruder, müde wurde, stellte Mutter das Pferdchen in den Stall mit den Worten: "Nächstes Jahr ist der kleine Bauer größer und darf länger aufbleiben!". Doch ein nächstes Weihnachten sollte es nicht mehr geben. Als der Frühling kam, starb unser Sonnenschein. Eingebettet in weißen Flieder trug man ihn zu Grabe.  Ich war damals elf Jahre alt. In dieser Zeit erlitten meine Seele und mein Herz Schäden für ein ganzes Leben.
Marga Neumann, Büchel